Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten und seine Ohren auf ihr Schreien.  Psalm 34,16

 

Liebe Leserinnen und Leser!

Ehe ein Mensch richtig schreit, muss viel passiert und zusammengekommen sein. Normalerweise nehmen wir uns zusammen. Wir beherrschen unsere Gefühle, versuchen es wenigstens. Denn einem Unbefugten gestatten wir es nicht, uns ins Herz und in die Seele zu schauen. Wenigstens der innerste Bereich unseres Lebens soll von zudringlichen Blicken verschont bleiben.

 Eintritt gewähren wir hier nur jemandem, dem wir vertrauen, bei dem wir uns mit unseren Gedanken und Gefühlen gut aufgehoben und wohl behütet wissen. Und weil das beileibe nicht immer und überall der Fall ist, deshalb nehmen wir uns in der Regel zusammen, so gut es eben geht.

Doch es kann auch anders kommen. Es kann auch so kommen, dass unsere Kraft zum Zusammenhalten nicht mehr ausreicht. Und dann ist es so, als brächen alle die Dämme, hinter denen wir in Deckung gegangen sind. Lange Zeit, vielleicht ein ganzes Leben lang, mögen sie gehalten haben. Doch nun reicht ihr Widerstand nicht mehr hin. Das übermächtige Innere verschafft sich Luft, es verschafft sich dadurch Luft, dass es ausbricht.

Der Schrei eines Menschen ist ein solcher Gefühlsausbruch. Durch ihn gelangt das nach außen, was wir normalerweise bei uns behalten. Wann und zu welchen Anlässen Menschen schreien, das wissen wir.

Das ist uns aus eigener Erfahrung - mehr oder weniger - bekannt: Menschen schreien vor lauter Empörung, Wut und Zorn; sie schreien aus Angst und Verzweiflung, sie schreien auch aus dem Gefühl der Freude, des Glücks, der Lust; sie schreien nicht minder wegen ihrer Schmerzen, sie schreien in höchster Not.

Alles Situationen, in denen wir mit einem Gefühl nur noch dadurch umgehen können, dass wir es nicht mehr beherrschen wollen - wir lassen uns "gehen". Ein jeder Schrei ist ein Ruf, ein besonders eindringlicher Ruf, der Gehör finden will. Gehör finden - das wollen wir im Grunde mit jedem Wort. Wie wohltuend, wenn ein anderer wirklich zuhört und mir signalisiert: Ich habe dich verstanden!

Und umgekehrt: Wie kränkend, wenn ich umsonst geredet habe und nichts zurückkommt. Wir reden, weil wir gehört werden wollen. Für den Schrei gilt das im doppelten Maße. Er ist ein durchdringender Ruf nach Hilfe. Er birgt in sich die Hoffnung, es möge jemand da sein, der's hört. Die Welt ist voll von solchen Schreien: lauten, leisen, stummen. Wer hört sie?

Wir haben Grund zu der Hoffnung, dass sie alle gehört werden, dass kein einziger Ruf der Verzweiflung auf dieser Erde ungehört verhallt. Gott zumindest hat ein Ohr für sie; er merkt auf sie alle.

Die Beter der Psalmen haben es erfahren. Sie geben uns die Worte, die wir Gott gleichsam ins Ohr "brüllen" dürfen. Bei ihm sind sie gut aufgehoben. So wie sich auch Jesus Christus bei Gott aufgehoben wissen durfte.

Das Matthäusevangelium erzählt, dass Christus am Kreuz mehrfach "laut schrie". Es ist ein kleiner, es ist vielleicht der letzte Rest von Freiheit, der einem Menschen verbleibt, wenn er in einen Schrei ausbricht. Christus schenkt uns diese Freiheit.

Mitunter schrumpft die ganze christliche Freiheit auf einen solchen Schrei zusammen, mit dem wir loswerden können, was uns bedrückt. „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten und seine Ohren auf ihr Schreien.“

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein offenes Ohr eines Menschen, dem ihr euren Kummer und Schmerz sagen könnt, aber vor allem, das Entdecken des offenen Ohres Gottes, das jedem Gehör schenkt, der ihn bittet.

Es grüßt Sie / Euch ganz herzlich

Ihr / Euer Pastor Michael Hüstebeck